Sein und Zeit

Heideggers Anmerkungen zum Judentum

Die Gesamtausgabe der Werke Heideggers umfasst über 100 Bände. In diesen gibt es viele Stellen, die sich mit den alten Griechen oder mit dem Wesen der Deutschen befassen. Kaum etwas jedoch hat er über Juden und das Judentum geschrieben. Das Meiste dieses Wenigen findet sich in den sog. Schwarzen Heften. In den Überlegungen II-XV (Schwarze Hefte 1931-1941) kommen Bezugnahmen auf Juden oder das Judentum in 17 Überlegungen vor. (Siehe auch meinen offenen Brief an Peter Trawny, dem Herausgeber sowohl der "Überlegungen" als auch der "Anmerkungen".) In den Anmerkungen I - V (Schwarze Hefte 1942-1948) - der Band umfasst über 500 Seiten - gibt es sieben Stellen, in denen Heidegger sich auf Juden und / oder das Judentum bezieht. Die folgende Interpretation ist meine Auslegung von fünf dieser sieben Anmerkungen. Ich werde alle fünf ungekürzt zitieren.

Die 6. Anmerkung sei der Vollständigkeit halber hier angeführt:
"»Prophetie« ist die Technik der Abwehr des Geschicklichen der Geschichte. Sie ist ein Instrument des Willens zur Macht. Daß die großen Propheten Juden sind, ist eine Tatsache, deren Geheimes noch nicht gedacht worden. (Anmerkung für Esel: mit »Antisemitismus« hat die Bemerkung nichts zu tun. Dieser ist so töricht und so verwerflich‚ wie das blutige und vor allem unblutige Vorgehen des Christentums gegen »die Heiden«. Daß auch das Christentum den Antisemitismus als »unchristlich« brandmarkt, gehört zur hohen Ausbildung der Raffinesse seiner Machttechnik.)" (Martin Heidegger: Gesamtausgabe, IV. Abteilung: Hinweise und Aufzeichnungen, Band 97: Anmerkungen I-V (Schwarze Hefte 1942-1948). Vittorio Klostermann, Frankfurt am Main 2015, S. 159)
In der 7. Anmerkung beschäftigt sich Heidegger mit seiner Beziehung zu seinem Lehrer Husserl.

Heidegger macht es seinen Auslegern und Nachlassbearbeitern nicht leicht, besonders nicht mit der Auslegung der Schwarzen Hefte. Es war sein Wille, dass die Schwarzen Hefte als letztes in der Gesamtausgabe veröffentlicht werden, wahrscheinlich deshalb, weil sie dem entsprechen, was er in einer Anmerkung über "Werkstattübungen und Skizzen" schreibt. Dass die Schwarzen Hefte dem Wesen nach Werkstattübungen und Skizzen sind, sieht man meiner Meinung nach schon daran, dass er die einzelnen Hefte mit einem Inhaltsverzeichnis versah. Dies ermöglichte ihm bei der Ausarbeitung eines Themas die von ihm bereits getätigten Vor-Überlegungen oder Anmerkungen rasch zu finden. Üblicherweise veröffentlicht man bei Künstlern und Denkern zunächst die Werke, und dann die Vorübungen und Skizzen zu diesen. Aus welchen Gründen auch immer; die Nachlassverwalter und Herausgeber haben sich bei Heidegger nicht an seinen ausdrücklichen Wunsch gehalten. Doch hören wir ihn selber dazu:

"Werkstattübungen und Skizzen können wohl zum Verständnis eines gedachten Gedankens verhelfen. Sie können jedoch auch und viel öfter irreführen; denn die entscheidenden Vorarbeiten werden gerade zu dem, woran sich jäh der Blitz des Anderen und eigentlich Gedachten auslöst. Dieses Gedachte ist nur aus ihm selbst zu denken. Es läßt sich aus keinem Verstandenen und keinen Vorstudien errechnen. Aber auch jenes Verständnis, das zu gelingen scheint‚ ergibt nie das Denken des Gedachten. Jenes bleibt nur der täuschende Ersatz für dieses. Die fleißigen Bearbeiter von »Nachlässen« übersehen diese Zusammenhänge zu leicht. Einer müßte denkender sein können als der Denker, um dem »Nachlaß«, wenn er einer ist, gewachsen zu bleiben." (Martin Heidegger: Gesamtausgabe, IV. Abteilung: Hinweise und Aufzeichnungen, Band 97: Anmerkungen I-V (Schwarze Hefte 1942-1948). Vittorio Klostermann, Frankfurt am Main 2015, S. 269)

Heidegger wusste um seine Bedeutung und litt darunter, dass er von seinen Zeitgenossen kaum je verstanden, ja oftmals sogar missverstanden wurde. Er war sich aber gleichermaßen im Klaren, dass er selbst großen Irrtümern unterlag. Und er ahnte, dass auch die Nachwelt es mit ihm schwer haben wird und sein Denken häufig verzerrt aufgefasst und verdreht ausgelegt werden wird. Ihm, dem Irrenden, blieb nichts anderes übrig als dies zu ertragen und zu akzeptieren, dass es ihm auch nach seinem Tod, auch nach Veröffentlichung seines Gesamtwerkes nicht anders als zu Lebzeiten ergehen werde. Darum schrieb er im Jahre 1946 folgende Anmerkung:

"Wer groß denkt, muß groß irren. Der Irrende muß auch ertragen, daß ihm das Falsche und Verfehlte und Zwei- und Mehrdeutige, worin er steht, indem er es befördert, als das Eigentliche seines »Wollens« vorgerechnet und damit das ganze seines Denkens dann verworfen wird. Der eigentliche Grund dieser Gefahren und Mißverhältnisse besteht und beruht aber in der wesenhaften Einsamkeit des Denkens. Sie ist und zumal auf dem Weg des seynsgeschichtlichen Denkens eine unbedingte. Sie bleibt darum auch mit moralischen Beurteilungen unversöhnbar. Alles Verhalten jenseits von Gut und Böse, das, sich selbst nicht kennend, anfängt, egoistisch und selbstgerecht abzuurteilen, fällt ins Ordinäre und Kleine und zwar in denselben Augenblicken, wo es mit erborgten wesentlichen Worten, die hohl bleiben, um sich den Schein hoher Geistigkeit inszeniert. Im Grunde ist dies eine Hilflosigkeit, die sich mit dem Denken brüstet, aber nicht imstande ist, selbst zu denken und im Denken denkend stehen zu bleiben." (Martin Heidegger: Gesamtausgabe, IV. Abteilung: Hinweise und Aufzeichnungen, Band 97: Anmerkungen I-V (Schwarze Hefte 1942-1948). Vittorio Klostermann, Frankfurt am Main 2015, S. 179)

 

Beschäftigte sich Heidegger in den Überlegungen von 1937 bis 1941 mit dem Aspekt des Weltjudentums, so geht es in den Anmerkungen der Jahre 1942 bis 1948 um die Jüdische Religion. Lesen wir die letzte Anmerkung dazu zuerst:

"Die modernen Systeme der totalen Diktatur entstammen dem jüdisch-christlichen Monotheismus." (Martin Heidegger: Gesamtausgabe, IV. Abteilung: Hinweise und Aufzeichnungen, Band 97: Anmerkungen I-V (Schwarze Hefte 1942-1948). Vittorio Klostermann, Frankfurt am Main 2015, S. 438) Diese Aussage Heideggers mag befremden und erschrecken. Noch dazu, wenn wir bedenken, dass sein eigenes Denken tief im Christentum und damit im Judentum verwurzelt ist. Christus, Gottes Sohn und Gott zugleich, ist Jude. Der Gott, dessen auserwähltes Volk die Juden sind, ist nach christlichem Glauben der Eine und Einzige Gott und damit ist auch nach christlichem Glauben, das jüdische Volk das von ihm auserwählte. Heidegger kannte wohl die Bibel sehr genau, das Alte Testament, das zugleich als Tanach das Buch der Juden ist, und das Neue Testament, das vom Juden Christus, und seinen jüdischen Freunden und Anhängern handelt.

Heideggers Denken sammelt sich in seinem Satz: „Der Mensch ist nicht der Herr des Seienden. Der Mensch ist der Hirt des Seins.“ (Martin Heidegger: Wegmarken; Brief über den Humanismus. Vittorio Klostermann, Frankfurt am Main 1976, S. 342) Beide Sätze: Der Mensch ist (nicht) der Herr des Seienden und der Mensch ist der Hirt des Seins wurzeln in der Bibel.

 

Da der Gott der Juden und Christen den Menschen nach seinem Bilde geschaffen hat, entspricht das jeweilige Menschenbild dem Bild, das wir uns von Gott machen. Betrachten wir Gott als den Allmächtigen, dann darf sich der Mensch als der Herr des Seienden fühlen und aufführen. Betrachten wir Gott als den Allbarmherzigen, sind wir die Hirten des Seienden, ist unser Auftrag, das, was uns überantwortet ist, zu hegen und zu pflegen.

Zuerst der Beleg für den Auftrag Gottes an den Menschen zu herrschen und Macht auszuüben. Er steht ganz am Anfang und findet sich in der Schöpfungsgeschichte:
"26 Und Gott sprach: Laßt uns Menschen machen, ein Bild, das uns gleich sei, die da herrschen über die Fische im Meer und über die Vögel unter dem Himmel und über das Vieh und über die ganze Erde und über alles Gewürm, das auf Erden kriecht. 27 Und Gott schuf den Menschen ihm zum Bilde, zum Bilde Gottes schuf er ihn; und schuf sie einen Mann und ein Weib. 28 Und Gott segnete sie und sprach zu ihnen: Seid fruchtbar und mehrt euch und füllt die Erde und macht sie euch untertan und herrscht über die Fische im Meer und über die Vögel unter dem Himmel und über alles Getier, das auf Erden kriecht." (Lutherbibel: 1. Mose - Kapitel 1, Vers 26 - 28)

Und nun der Beleg für die andere Sichtweise; es ist das Gleichnis vom Guten Hirten aus dem Johannesevangelium:
"11 Ich bin der gute Hirte. Der gute Hirte läßt sein Leben für seine Schafe. 12 Der Mietling aber, der nicht Hirte ist, des die Schafe nicht eigen sind, sieht den Wolf kommen und verläßt die Schafe und flieht; und der Wolf erhascht und zerstreut die Schafe. 13 Der Mietling aber flieht; denn er ist ein Mietling und achtet der Schafe nicht. 14 Ich bin der gute Hirte und erkenne die Meinen und bin bekannt den Meinen, 15 wie mich mein Vater kennt und ich kenne den Vater. Und ich lasse mein Leben für die Schafe. 16 Und ich habe noch andere Schafe, die sind nicht aus diesem Stalle; und dieselben muß ich herführen, und sie werden meine Stimme hören, und wird eine Herde und ein Hirte werden." (Lutherbibel: Johannesevangelium - Kapitel 10, Vers 11 - 16)
Dieses Bild des Guten Hirten findet sich zwar im Neuen Testament, es stammt aber aus dem Tanach, dem Alten Testament:
"1 Ein Psalm Davids. Der Herr ist mein Hirte; mir wird nichts mangeln. 2 Er weidet mich auf grüner Aue und führet mich zum frischen Wasser. 3 Er erquicket meine Seele; er führet mich auf rechter Straße um seines Namens willen. 4 Und ob ich schon wanderte im finstern Tal, fürchte ich kein Unglück; denn du bist bei mir, dein Stecken und dein Stab trösten mich. 5 Du bereitest vor mir einen Tisch im Angesicht meiner Feinde. Du salbest mein Haupt mit Öl und schenkest mir voll ein. 6 Gutes und Barmherzigkeit werden mir folgen mein Leben lang, und ich werde bleiben im Hause des Herrn immerdar." (Lutherbibel: Die Psalmen - Kapitel 23, Vers 1 - 6)
"11 Er wird seine Herde weiden wie ein Hirte; er wird die Lämmer in seine Arme sammeln und in seinem Busen tragen und die Schafmütter führen." (Lutherbibel: Das Buch Jesaja - Kapitel 40, Vers 11)
"11 Denn so spricht der Herr: Siehe, ich will mich meiner Herde selbst annehmen und sie suchen. 12 Wie ein Hirte seine Schafe sucht, wenn sie von seiner Herde verirrt sind, also will ich meine Schafe suchen und will sie erretten von allen Örtern, dahin sie zerstreut waren zur Zeit, da es trüb und finster war. 13 Ich will sie von allen Völkern ausführen und aus allen Ländern versammeln und will sie in ihr Land führen und will sie weiden auf den Bergen Israels und in allen Auen und auf allen Angern des Landes. 14 Ich will sie auf die beste Weide führen, und ihre Hürden werden auf den hohen Bergen in Israel stehen; daselbst werden sie in sanften Hürden liegen und fette Weide haben auf den Bergen Israels. 15 Ich will selbst meine Schafe weiden, und ich will sie lagern, spricht der Herr. 16 Ich will das Verlorene wieder suchen und das Verirrte wiederbringen und das Verwundete verbinden und des Schwachen warten; aber was fett und stark ist, will ich vertilgen und will es weiden mit Gericht. 17 Aber zu euch, meine Herde, spricht der Herr also: Siehe, ich will richten zwischen Schaf und Schaf und zwischen Widdern und Böcken. 18 Ist's euch nicht genug, so gute Weide zu haben, daß ihr das übrige mit Füßen tretet, und so schöne Borne zu trinken, daß ihr auch noch dareintretet und sie trüb macht, 19 daß meine Schafe essen müssen, was ihr mit euren Füßen zertreten habt, und trinken, was ihr mit euren Füßen trüb gemacht habt? 20 Darum so spricht der Herr zu ihnen: Siehe, ich will richten zwischen den fetten und mageren Schafen, 21 darum daß ihr mit der Seite und Schulter drängt und die Schwachen von euch stoßt mit euren Hörnern, bis ihr sie alle von euch zerstreut. 22 Und ich will meiner Herde helfen, daß sie nicht mehr sollen zum Raub werden, und will richten zwischen Schaf und Schaf. 23 Und ich will ihnen einen einigen Hirten erwecken, der sie weiden soll, nämlich meinen Knecht David. Der wird sie weiden und soll ihr Hirte sein, 24 und ich, der Herr, will ihr Gott sein; aber mein Knecht David soll der Fürst unter ihnen sein, das sage ich, der Herr." (Lutherbibel: Das Buch Hesekiel - Kapitel 34, Vers 11 - 24)

Doch es gibt einen fundamentalen Unterschied zu Heidegger: Heidegger sagt nicht: Der Mensch ist der Hirt des Seienden!, sondern er sagt: Der Mensch ist der Hirt des Seins!

Und damit ist er vom Christentum, und das heißt immer auch vom Judentum, abgesprungen. Aber wo ist er gelandet? Bei den alten Griechen. Die griechischen Götter sind weder allmächtig noch allbarmherzig. Über den Göttern und den Menschen waltet das Schicksal. Schicksal, Moira (Μοῖρα), ist aber eines der griechischen Worte für das Sein.

Aber was hat das alles mit dem Heideggerwort: "Die modernen Systeme der totalen Diktatur entstammen dem jüdisch-christlichen Monotheismus." zu tun?

Lesen wir dazu eine weitere Anmerkung:
Zur Götterlehre. - Jehova ist derjenige der Götter, der sich anmaßte‚ sich zum auserwählten Gott zu machen und keine anderen Götter mehr neben sich zu dulden. Die Wenigsten erraten, wie dieser Gott auch so noch und zwar notwendig sich unter die Götter rechnen muß; wie könnte er sonst sich aussondern. Daraus wurde dann der eine einzige Gott, außer dem (praeter quem) überhaupt sonst keiner sei. Was ist ein Gott, der sich gegen die anderen zum auserwählten hinaufsteigert? Jedenfalls ist er nie »der« Gott schlechthin, gesetzt, daß das so Gemeinte je göttlich sein könnte. Wie, wenn die Göttlichkeit des Gottes in der großen Ruhe beruhte, aus der er die anderen Götter anerkennt. »Gott ist« - so zu reden ist eine Gedankenlosigkeit und eine Verschleierung derselben außerdem, um von der Anmaßung zu schweigen, die solches Gerede verrät, falls es gar das Reden eines denkenden Menschen sein will. Die Angst vor dem Göttlichen flieht zu »Gott«, der weder ein Gott ist, noch »der« Gott je sein kann; oder man flieht nur zur Theologie." (Martin Heidegger: Gesamtausgabe, IV. Abteilung: Hinweise und Aufzeichnungen, Band 97: Anmerkungen I-V (Schwarze Hefte 1942-1948). Vittorio Klostermann, Frankfurt am Main 2015, S. 369)
Aber Jehova, der Gott der Juden und Christen, maßte sich nicht nur an, sich zum alleinigen Gott zu machen; er stellte sich auch über das Schicksal. Nun war er nicht mehr dem Schicksal unterworfen, er selber wurde Herr des Schicksals, das Schicksal untersteht ihm. Gott, ein Seiender, ist Herr des Seins. Und so steigert sich auch der nach dem Bilde Gottes geschaffene Mensch in seiner Überheblichkeit und Allmachtsphantasie auf zum Herrn des Schicksals.
(Siehe auch Offener Brief: http://seinundzeit.at/philosophie/brief.html - Meine Über-legungen zu Überlegung Nr. 24.)

Es gibt aber einen Unterschied zwischen dem Gott der Juden und dem der Christen, auch wenn er derselbe ist.
Der Gott der Juden sammelt seine Schafe ein. Er schließt alle anderen aus.: "12 Wie ein Hirte seine Schafe sucht, wenn sie von seiner Herde verirrt sind, also will ich meine Schafe suchen und will sie erretten von allen Örtern, dahin sie zerstreut waren zur Zeit, da es trüb und finster war. 13 Ich will sie von allen Völkern ausführen und aus allen Ländern versammeln und will sie in ihr Land führen und will sie weiden auf den Bergen Israels und in allen Auen und auf allen Angern des Landes. 14 Ich will sie auf die beste Weide führen, und ihre Hürden werden auf den hohen Bergen in Israel stehen; daselbst werden sie in sanften Hürden liegen und fette Weide haben auf den Bergen Israels." (Lutherbibel: Das Buch Hesekiel - Kapitel 34, Vers 12 - 44)
Der Gott der Christen sammelt alle Schafe ein. Er schließt alle ein.: "16 Und ich habe noch andere Schafe, die sind nicht aus diesem Stalle; und dieselben muß ich herführen, und sie werden meine Stimme hören, und wird eine Herde und ein Hirte werden." (Lutherbibel: Johannesevangelium - Kapitel 10, Vers 16)
So ist das Judentum ausschließend –  die Juden sind das von Gott auserwählte Volk, sie trachten nicht danach, die anderen Völker zu missionieren. Das Christentum ist einschließend. Alle Menschen sind Kinder Gottes, die Christen haben den Auftrag zu missionieren und alle Menschen zu Christen zu machen.

Aber was hat das mit den modernen Systemen der totalen Diktatur zu tun? Was hat das mit dem Nationalsozialismus Hitlers und dem Kommunismus Lenins und Stalins zu tun? Noch dazu wo der Marxismus explizit atheistisch ist (Der Nationalsozialismus Hitlers ist es unausgesprochen wohl auch.). Häufig spielte sich in alten Diktaturen der Herrscher auf und ließ sich als Gott verehren, aber er blieb dabei noch immer einer unter vielen Göttern und unterstand so dem Schicksal. In beiden totalitären Diktaturen des 20. Jahrhunderts erhebt sich ein gottloser Mensch, der niemandem und keiner Macht mehr Rechenschaft schuldig ist, mit seinem Gefolge im Schlepptau auf zum alleinigen Herrn des Schicksals. Die moderne totale Diktatur ist sowohl einschließend als auch ausschließend: Ziel ist die Unterwerfung aller, nun nicht mehr durch Missionierung, sondern durch Eroberung. Wer sich entgegenstellt und so nicht dazugehört, wird nicht nur ausgeschlossen, er wird vernichtet. Bei Hitler kam noch der teuflische Rassenwahn hinzu. Er sah die nordische Rasse, was immer man auch darunter verstehen mag, als das "auserwählte" Volk an, das die anderen Völker und Rassen nach Belieben beherrschen und vernichten darf.

So wird der Gedanke: "Die modernen Systeme der totalen Diktatur entstammen dem jüdisch-christlichen Monotheismus." verständlich. Die modernen Systeme der totalen Diktatur sind entartete Ausgeburten des jüdisch-christlichen Monotheismus.
Ob es tatsächlich so ist, sei dahingestellt. Ich persönlich bin der Meinung, dass Heidegger mit dieser Anmerkung irrt. Aber das tut seinem Denken keinen Abbruch, denn - wie Heidegger selbst betonte - "Wer groß denkt, muß groß irren." Er hat - soweit mir bekannt - diesen Gedanken in seinen weiteren Werken, seinen eigentlichen Werken, die nicht bloß Werkstattübungen und Skizzen waren, nicht weiter verfolgt.

Verständlicher werden nun auch seine Anmerkungen zum Judentum und Christentum der "Anmerkungen I" aus den Jahren des 2. Weltkrieges, wahrscheinlich aus dem Jahre 1942. Es sind dies drei hintereinander folgende Überlegungen. Völlig klar werden sie uns aber nur, wenn wir sie im Zusammenhang mit den beiden vorausgehenden Anmerkungen lesen. Ich zitiere alle fünf Anmerkungen ganz:
1. Anmerkung: "Das reine Wesen des Griechentums, d. h. das Seiende, inmitten dessen die Griechen als seiende fremd gewesen, dieses und sie selbst und der Bezug des Seins zu ihnen - in der einfachen Wesung von der ἀλήθεια her zeigen und erfahren. Den μῦθος und λόγος - jedes Wort und Gebild rein, aber nicht erzwungen und schematisch-pedantisch - aus ἀλήθεια erfahren.
2. Anmerkung: "Wir müssen jeden Tag neu den Blick im Unzerstörbaren ruhen lassen. Aus dieser Ruhe entspringt alle Bewegung."
3. Anmerkung: "Der Anti-Christ muß wie jedes Anti- aus dem selben Wesensgrund stammen wie das, wogegen es anti- ist - also wie »der Christ«. Dieser stammt aus der Judenschaft. Diese ist im Zeitraum des christlichen Abendlandes, d. h. der Metaphysik, das Prinzip der Zerstörung. Das Zerstörerische in der Umkehrung der Vollendung der Metaphysik - d. h. der Metaphysik Hegels durch Marx. Der Geist und die Kultur wird zum Überbau des »Lebens« - d. h. der Wirtschaft, d. h. der Organisation - d. h. des Biologischen - d. h. des »Volkes«."
4. Anmerkung: "Wenn erst das wesenhaft »Jüdische« im metaphysischen Sinne gegen das Jüdische kämpft, ist der Höhepunkt der Selbstvernichtung in der Geschichte erreicht; gesetzt, daß das »Jüdische« überall die Herrschaft vollständig an sich gerissen hat, so daß auch die Bekämpfung »des Jüdischen« und sie zuvörderst in die Botmäßigkeit zu ihm gelangt."
5. Anmerkung: "Von hier aus ist zu ermessen, was für das Denken in das verborgene anfängliche Wesen der Geschichte des Abendlandes das Andenken an den ersten Anfang im Griechentum bedeutet, das außerhalb des Judentums und d. h. des Christentums geblieben."
(Martin Heidegger: Gesamtausgabe, IV. Abteilung: Hinweise und Aufzeichnungen, Band 97: Anmerkungen I-V (Schwarze Hefte 1942-1948). Vittorio Klostermann, Frankfurt am Main 2015, S. 20)

In der 2. der 5. Anmerkungen weist Heidegger darauf hin, worauf er bei seinen Überlegungen den Blick ruhen lässt. Es geht darum, wie er das jeweils Betrachtete zu sehen bekommt, wenn er durch es hindurch blickend, immer auch dasjenige im Auge behält, woraufhin er seine Überlegungen entwirft. Dieses Woraufhin des Entwurfs ist bei den fünf Überlegungen das Unzerstörbare. Das Unzerstörbare aber ist das Seyn selber, denn alles Seiende kann zerstört werden. Er findet dieses Unzerstörbare in der Philosophie der frühen Griechen (Anaximander, Parmenides, Heraklit). - Vorab sei schon angemerkt, dass die Metaphysik für ihn mit der Ideenlehre Platons beginnt, in welcher sich das Sein zu einem Seienden wandelt (den Ideen). - In der 3. Anmerkung betrachtet er unter diesem Gesichtspunkt zunächst das Christentum. In jedem "-tum" steckt wesensmäßig sein "Anti-". Der Anti-Christ steckt wesensmäßig im Christentum. Da der Christ aus der Gemeinschaft der Juden stammt - Heidegger bleibt vorsichtig, er sagt in dieser Überlegung noch nicht Judentum - muss auch der Anti-Christ Wurzeln im Judentum haben. Nun wendet er sich der Metaphysik zu, die mit Plato ihren Anfang nimmt, die Philosophie des christlichen Abendlandes ist und sich mit und in der Philosophie Hegels vollendet. Auch in der Metaphysik und im Bezug zu deren Vollendung muss es ein "Anti-" geben. Er findet dieses "Anti-" zu Hegel in der Philosophie von Marx, welcher der Gemeinschaft der Juden zugehört. Der Marxismus fußt auf der Philosophie Hegels, ist aber zugleich die Zerstörung und Umkehrung derselben. In ihr ist nicht mehr der Geist das Wesentliche, sondern Wirtschaft, Organisation, Biologie und "Volk" bilden das Wesen. Wenn Heidegger üblicherweise den Anfang der Entwicklung der Metaphysik in der Ideenlehre Platons verortet, in der die christliche Philosophie wurzelt, blickt er in diesen Überlegungen auf die andere Wurzel des Christentums, die ja zugleich das Wesen des Christentums ausmacht: das Judentum. Das "wesenhaft »Jüdische« im metaphysischen Sinne" (Heidegger setzt »Jüdische« in Anführungszeichen) ist der Monotheismus, wodurch das Sein, d. h. das Schicksal, unter die Herrschaft eines Seienden, des Einen und Einzigen Gottes, kommt. Nun wendet sich Heidegger seiner eigenen Gegenwart zu; der Schreckensherrschaft des Nationalsozialismus. Hier hat sich ein Mensch zum "Allmächtigen" aufgeschwungen. Heidegger sieht nicht nur die Zerstörungen, die Hitler und seine Schergen über den Planeten bringen, er ahnt auch, dass diese im Wesen Selbstvernichtung sind. Den Höhepunkt der Selbstvernichtung in der Geschichte insgesamt verortet er nun im Kampf der Nazis gegen das Jüdische, d. h. die Juden. Man beachte, dass Heidegger hier das Jüdische ohne Anführungszeichen schreibt. Mit "das wesenhaft »Jüdische« im metaphysischen Sinne" ist die Linie gemeint, welche mit dem Aufschwingen Jehovas zum Einzigen Gott anfängt, mit Hegel ihren Höhepunkt erfährt und mit Marx ihre Zerstörung findet. Betont sei, dass Heidegger im Gegensatz zu diesen Überlegungen in seinen Hauptwerken den Anfang jener Linie in der Ideenlehre Platons, den Höhepunkt gleichfalls bei Hegel, die Zerstörung aber bei Nietzsche verortet.
Als ob Heidegger den Nazis sagen wollte: Euer Kampf gegen die Juden ist im Wesen nichts anderes als Selbstvernichtung. Zwar hat das Ereignis dieser Selbstvernichtung bereits vor Jahrtausenden mit der Erhebung des "jüdischen" Gottes Jehova zum einzigen und allmächtigen Gott, der sich über das Schicksal stellt, seinen Anfang genommen und ihr seid zeitlich bloß ein winzig kleiner Teil davon. Aber ihr habt es mit roher Brutalität zu seinem grausamen Höhepunkt getrieben. Euer Kampf gegen die Juden ist der sichtbare Beweis dafür. Ihr entstammt selber "dem wesenhaft »Jüdischen« im metaphysischen Sinne", habt euch nirgends aus dieser Philosophie herausgelöst. Ihr seid tief in ihr verwurzelt geblieben, jedoch habt ihr sie mit eurem rücksichtslosen Machtstreben und eurer abgehobenen Anmaßung Herren des Schicksals zu sein ins Abartige pervertiert. Eure skrupellosen Allmachtsphantasien sind Illusion, denn wenn ihr auch "das »Jüdische« im metaphysischen Sinne" - hierin eingeschlossen sind auch der Kommunismus, das Christentum und genau besehen auch die Hegelsche Philosophie und mit ihr die gesamte Metaphysik (Onto-Theo-Logie) - bekämpft, überseht ihr, dass ihr lediglich dasjenige "Anti-" in diesem System seid, welches alle möglichen "Anti-" vollständig an sich gerissen und unter seine Herrschaft gebracht hat. Im Glauben, ihr könntet frei und nach Belieben schalten und walten, führt ihr euch auf, als wärt ihr die Herren der Welt. Würde ich euch vorwerfen, ihr seid Sklaven eures irrwitzigen Willens zur Macht, befände ich mich selber noch auf dem Boden der Metaphysik. Und so sage ich euch aus der Position meines seinsgeschichtlichen Denkens heraus: Wenn ihr glaubt, in eurem entfesselten Streben nach grenzenloser Macht frei zu sein, irrt ihr euch. Wie ein Alkoholiker dem Alkohol verfallen ist, so seid ihr als Machtmenschen dem Macht-wesen (Anmerkung: Nicht: Macht-Wesen) verfallen. In Wahrheit seid ihr in diesem Vernichtungskampf, den ihr führt, die Gefangenen eurer eigenen Machenschaften.

In der 5. Anmerkung wendet sich Heidegger wieder vom jüdisch-christlichen Monotheismus weg, hin zum Anfang der Abendländischen Geschichte, dem Ersten Anfang der Griechen, in welchem er den Anderen Anfang zu ergründen sucht. Ich vermute, dass ihm dies als Mensch Heidegger - nicht als Philosoph - gar nicht leicht gefallen ist; sind sein persönlicher Werdegang und seine Lebensgeschichte doch tief im Christentum und damit naturgemäß im Judentum im religiösen Sinne verwurzelt. Denn "Schwer verläßt, Was nahe dem Ursprung wohnet, den Ort." (Friedrich Hölderlin, Die Wanderung)